11
Beunruhigt legte Faith den Telefonhörer auf die Gabel zurück. Das war jetzt das sechste Mal, daß sie Francis Pleasant angerufen und keine Antwort erhalten hatte. Eine Sekretärin beschäftigte er nicht. Diese Rolle hatte früher Mrs. Pleasant ausgefüllt, und nach ihrem Tode hatte er nicht den Mut gehabt, sie zu ersetzen. Mr. Pleasant hatte das Hotel verlassen, besser gesagt, er hatte die Schlüssel auf dem Nachttisch zurückgelassen, und seine Sachen waren nicht mehr da. Da er das Zimmer vorab bezahlt hatte, war das so ungewöhnlich nicht.
Ungewöhnlich jedoch war, daß er sie nicht wie versprochen angerufen hatte. Sie glaubte nicht, daß er es vergessen hätte. Irgend etwas stimmte da nicht. Eingedenk seines gesundheitlichen Zustandes befürchtete sie, daß er im Krankenhaus lag und zu krank war, um zu telefonieren. Bei dem Gedanken an einen einsamen Tod zog sich ihr Magen zusammen. Irgend jemand sollte doch wenigstens bei ihm sein und seine Hand halten, so wie sie damals Scotties gehalten hatte.
Abgesehen von ihrer Sorge um ihn wußte sie nicht, wen er befragt und was – wenn denn überhaupt etwas – er dabei herausgefunden hatte. Sie würde alleine weitermachen müssen, ohne seine Antworten auswerten zu können.
Sie hatte keine klare Vorstellung über ihre Vorgehensweise oder wonach sie Ausschau halten und welche Fragen sie stellen sollte – immer vorausgesetzt, daß man sich überhaupt zu einem Gespräch mit ihr bereitfinden würde. Neuzugezogene würden ihr natürlich Auskünfte geben, allerdings wüßten die nicht viel zu erzählen. Die Alteingesessenen dagegen verfügten über Informationen, würden aber vermutlich Grays Anweisungen folgen und jeden Kontakt mit ihr meiden.
Eine plötzliche Idee jedoch ließ sie schmunzeln. Es gab einen Menschen, der mit ihr, wenn auch nicht aus freien Stücken, sprechen würde.
Sie bürstete sich die Haare und drehte sie zu einem schweren Knoten, den sie mit wenigen Nadeln feststeckte. Ein paar Strähnen hingen ihr ins Gesicht und in den Nacken. Dabei beließ sie es, und wenige Minuten nach ihrer Entscheidung war sie schon Richtung Prescott zu Morgans Lebensmittelladen unterwegs.
Erwartungsgemäß wurde sie augenblicklich von Morgans Frau bemerkt. Faith beachtete sie nicht, sondern schlenderte auf das Kühlregal im hinteren Teil des Ladens zu, wo sie vor Mrs. Morgans guten Ohren sicher war. Es dauerte nicht lange, bis Ed schnellen Schrittes durch die Regalreihen eilte. Auf seinem fleischigen Gesicht spiegelte sich sowohl Ungeduld als auch Ablehnung. »Vielleicht haben Sie es noch nicht ganz richtig verstanden«, bemerkte er schnaufend, als er vor ihr zum Stehen gekommen war. »Ich will Sie in meinem Laden nicht sehen! Hier können Sie keinerlei Einkäufe tätigen.«
Faith blieb ruhig stehen und lächelte ihn kühl an. »Ich bin nicht hierhergekommen, um etwas zu kaufen. Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.«
»Wenn Sie nicht sofort gehen, hole ich die Polizei«, erwiderte er und blickte sich verunsichert um.
Die Erwähnung der Polizei zog ihr den Magen zusammen, vermutlich genau die von ihm erwünschte Reaktion. Sie richtete sich auf und zwang sich dazu, die Drohung zu ignorieren. »Wenn Sie meine Fragen beantworten«, sagte sie leise, »bin ich in wenigen Minuten hier wieder raus. Wenn nicht, dann wird Ihre Frau vielleicht mehr erfahren, als Ihnen lieb ist.« Wenn es darum ging zu drohen, so hatte sie auch etwas zu bieten.
Er wurde blaß und warf einen ängstlichen Blick über die Schulter. »Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden.«
»Auch gut. Meine Fragen betreffen nicht meine Mutter. Ich möchte gerne etwas über Guy Rouillard wissen.«
Er blinzelte, verwirrt über die neue Wendung. »Über Guy?« wiederholte er.
»Mit wem hat er sich in jenem Sommer noch getroffen?« fragte sie. »Ich weiß, daß meine Mutter nicht die einzige war. Erinnern Sie sich an irgendwelche Gerüchte?«
»Warum wollen Sie das wissen? Es ist vollkommen egal, mit wem er sich noch getroffen hat. Schließlich ist er mit Renee und nicht mit einer der anderen durchgebrannt.«
Faith blickte auf ihre Uhr. »So wie ich die Sache einschätze, haben Sie jetzt noch ungefähr zwei Minuten, bevor Ihre Frau hier erscheint, um nach uns zu sehen.«
Er starrte sie unfreundlich an, dann brachte er zögernd hervor: »Ich habe gehört, daß er sich mit Andrea Wallice getroffen hat, der Sekretärin von Alex Chelette. Alex war Guys bester Freund. Keine Ahnung, ob da was dran ist, denn sie schien nicht sehr traurig, als er nicht mehr da war. Dann gab es da noch eine Kellnerin draußen bei Jimmy's. An ihren Namen kann ich mich nicht mehr erinnern, aber Guy hat sich ein paar Mal mit ihr getroffen. Sie ist allerdings nicht mehr da. Dann habe ich noch gehört, daß er mit Yolanda Foster etwas hatte. Guy war wahrlich kein Kind von Traurigkeit. Ich kann mich wirklich nicht erinnern, mit wem er noch alles was gehabt hat, und wann.«
Yolanda Foster, das mußte die Frau des damaligen Bürgermeisters sein. Ihr Sohn Lane gehörte zu jener Gruppe, die insgeheim mit Jodie herumhingen, aber in der Öffentlichkeit dann kein Wort mehr mit ihr wechselten.
»War das allgemein bekannt?« fragte sie. »Gab es denn keine eifersüchtigen Ehemänner?«
Er zuckte mit den Schultern und blickte wieder nach vorn in den Laden. »Vielleicht hat es der Bürgermeister ja gewußt. Aber Guy hat viel zu seinem Wahlkampf beigesteuert. Ich bezweifle, daß er es an die große Glocke gehängt hätte, wenn er gewußt hätte, daß Yolanda ... nun ja, die Beiträge für ihn einstreicht.« Als er grinste, merkte Faith einmal mehr, wie sehr er ihr zuwider war.
»Danke für die Information«, sagte sie und wandte sich zum Gehen.
»Sie werden also nicht mehr hierherkommen?« fragte er ängstlich.
Sie hielt inne und sah ihn nachdenklich an. »Vielleicht nicht«, erwiderte sie. »Rufen Sie mich an, falls Ihnen noch ein paar Namen einfallen.« Dann verließ sie schnellen Schrittes und ohne Mrs. Morgan auch nur eines Blickes zu würdigen den Laden.
Zwei Namen und zusätzlich noch die Möglichkeit der unbekannten Kellnerin. Das war ein Anfang. Was sie jedoch am meisten interessierte, war die Erwähnung von Guys bestem Freund, Alex Chelette. Er würde höchstwahrscheinlich alle ihre Fragen beantworten können.
Die Chelettes waren eine der alteingesessenen, sehr wohlhabenden Familien in der Gegend. Sie hatten zwar nicht das Niveau der Rouillards, aber das erreichte schließlich niemand hier. Der Name war ihr bekannt, wenn sie auch keinerlei Erinnerung damit verband. Sie war ja bereits mit vierzehn von hier fortgegangen. Außerdem hatte sie sich viel mehr zurückgezogen als die meisten Mädchen ihres Alters. Sie erinnerte sich nur an jene Menschen, die in direktem Kontakt mit einem ihrer Familienmitglieder standen. Soweit sie sich erinnern konnte, war sie bisher noch niemanden der Chelettes begegnet. Alex würde aber sicherlich aufzutreiben sein, denn alteingesessenes Geld wechselte nicht so schnell den Wohnort.
Sie ging zu einer Telefonzelle am Rand des Parkplatzes und schaute im Telefonbuch nach. Der Anschluß war unter 'Alexander Chelette, Rechtsanwalt' aufgeführt. Darunter stand die Nummer von 'Chelette & Anderson, Rechtsanwälte und Notare'.
Sie warf eine Münze ein und wählte das Büro. Eine melodische Stimme antwortete nach dem zweiten Klingeln.
Faith sagte: »Mein Name ist Faith Hardy. Könnte ich heute noch einen Termin mit Mr. Chelette bekommen?«
Die folgende kurze Pause sagte Faith, daß ihr Name registriert worden war. Dann antwortete die melodische Stimme: »Den Vormittag über ist er bei Gericht, aber Sie könnten um halb zwei mit ihm sprechen, falls Ihnen das recht ist.«
»Ja, gern. Vielen Dank.« Faith legte auf und fragte sich, ob die singende Stimme diejenige von Andrea Wallace gewesen war, seinerzeit Mr. Chelettes Sekretärin, oder ob es sich um eine andere handelte.
Wenn sie nicht noch einmal nach Haus zurückfahren wollte, dann hatte sie drei Stunden zu überbrücken. Ihr Magen knurrte und erinnerte sie daran, daß die Scheibe Toast von heute morgen um halb sieben schon lange verdaut war. Würde sie in den Restaurants der Stadt bedient werden, oder hatte auch dort Grays Einfluß bereits gegriffen? Schulterzuckend beschloß sie, die Sache gleich einmal auf die Probe zu stellen.
Sie parkte ihren Wagen direkt vor einem Restaurant am Marktplatz, das sie zuvor noch nicht besucht hatte. Bevor sie zu den Greshams gezogen war, hatte sie nie außer Haus gegessen. Sie hatten ihr die Annehmlichkeiten der Restauration gezeigt. Bei dem Gedanken mußte sie lächeln. Sie betrat das kühle, etwas abgedunkelte Restaurant und machte sich eine gedankliche Notiz, die Greshams heute abend noch anzurufen. Sie versuchte den Kontakt zu halten und rief mindestens einmal im Monat an. Seit ihrem letzten Telefonat waren schon wieder fast vier Wochen verstrichen.
Da man seinen Tisch selbst wählen konnte, entschied Faith sich für eine kleine Nische am hinteren Ende des Raums. Eine freundliche, etwas korpulente Bedienung brachte eilig die Karte. »Was möchten Sie trinken?«
»Süßen Tee.« Daß der Tee geeist sein würde, war hier vollkommen normal, es sei denn, es wurde ausdrücklich heißer Tee verlangt. Gewöhnlich bestand die Wahl deshalb lediglich zwischen gesüßtem und ungesüßtem.
Die Bedienung beeilte sich, das Getränk zu servieren, und Faith warf einen Blick auf die Karte. Sie hatte sich gerade für den Geflügelsalat entschieden, als jemand neben ihrer Nische auftauchte. »Bist du nicht Faith Devlin?«
Faith erstarrte. Würde sie jetzt zum Gehen aufgefordert werden? Sie betrachtete die Frau, die vor ihr stand. »Ja, das bin ich.« Die Frau kam ihr irgendwie bekannt vor mit ihren braunen Haaren, den braunen Augen und dem breiten, von Grübchen eingerahmten Mund. Sie war klein, vielleicht etwas über einssechzig, und sah neugierig aus.
»Dachte ich es mir doch. Es ist zwar schon lange her, aber die Haarfarbe werde ich nie vergessen.« Die Frau lächelte. »Ich bin Halley Bruce, das heißt, mittlerweile heiße ich Johnson. Ich war in deiner Klasse.«
»Aber ja!« Sowie sie den Namen gehört hatte, erkannte Faith die Frau. »Ich erinnere mich. Wie geht es dir?« Halley war nicht ihre Freundin gewesen – sie hatte keinerlei Freunde gehabt –, aber andererseits hatte sich Halley auch nicht an den gemeinen Hänseleien beteiligt, denen Faith ausgesetzt gewesen war. Sie hatte zumindest Abstand bewiesen.
Der Ausdruck ihrer Augen war eindeutig freundlich. »Möchtest du dich zu mir setzen?« lud Faith sie ein.
»Nur für einen Augenblick«, sagte Halley und setzte sich Faith gegenüber. Die Kellnerin brachte Faiths Tee und nahm die Bestellung für den Geflügelsalat auf. Wieder allein, sagte Halley lächelnd: »Das Lokal hier gehört der Familie meines Mannes, und ich leite es für sie. Ich erwarte jeden Moment eine Lieferung und muß mich dann darum kümmern.«
Da Gray bereits von ihrem Reiseunternehmen wußte, gab es keinerlei Grund mehr, nicht darüber zu sprechen. »Und ich schwänze gerade. Ich habe ein Reisebüro in Dallas und hätte meine Managerin unterrichten sollen, wo ich jetzt bin, aber ich habe vergessen, sie von zu Hause aus anzurufen.«
Nun, wo die sozialen und finanziellen Hintergründe geklärt waren, konnten sie sich als ebenbürtig zulächeln. Faith fühlte eine Wärme in sich aufsteigen. Selbst als sie bereits bei den Greshams gewohnt hatte und dort auf die Oberschule gegan gen war, hatte sie keine Freundin gehabt. Sie war noch viel zu traumatisiert gewesen und hatte sich viel zu sehr zurückgezogen, um Freundschaften aufzubauen. Erst auf dem College hatte sie sich überhaupt um andere bemüht. Die selbstverständliche Akzeptanz ihrer Mitbewohnerinnen war ihr eine Offenbarung gewesen. Anfangs schüchtern, war sie schon bald aufgeblüht und hatte begeistert an den weiblichen Ritualen teilgenommen, die ihr als Mädchen verwehrt gewesen waren: das nächtelange Schwatzen, die Neckereien und das Gelächter, das Tauschen von Kleidung und Make-up, der Wirbel, wenn man sich morgens zurechtmachte und dabei den gleichen Spiegel mit einer Zimmergenossin teilte. Zum ersten Mal hatte sie sich an den endlosen Gesprächen über den Mann, das Geheimnisvolle beteiligt – vielmehr hatte sie den anderen zugehört und über deren Naivität nur lächeln können. Obwohl damals viele ihrer Mitstudentinnen bereits mit einem Mann geschlafen hatten und Faith immer noch Jungfrau war, hatte sie sich doch unendlich viel älter und erfahrener gefühlt. Die anderen betrachteten die Männer durch die rosarote Brille der Romantik, während sie selbst keinerlei Illusionen hegte.
Dennoch waren die Freundschaften zu Frauen für sie immer besonders schön gewesen. Jetzt betrachtete sie Halley Johnson in der Hoffnung, daß dies mit ihr auch möglich sein könnte.
»Wo bist du denn damals hingezogen?« fragte Halley und ging ganz zwanglos über die näheren Umstände hinweg, unter denen Faith Prescott verlassen hatte.
»Beaumont, Texas. Dann bin ich nach Austin aufs College gegangen. Danach dann Dallas.«
Halley seufzte. »Ich habe niemals woanders als hier gelebt. Und das werde ich wohl auch niemals tun. Erst wollte ich mich ein wenig umsehen, aber dann haben Joel und ich geheiratet, danach kamen die Kinder. Wir haben zwei«, sagte sie und lachte. »Einen Jungen und ein Mädchen. Nachdem wir von jeder Sorte eins hatten, haben wir dann aufgehört. Und du?«
»Ich bin Witwe«, erwiderte Faith, und ein trauriger Schatten legte sich bei dem Gedanken an Kyle über ihr Gesicht. Er war so jung und so sinnlos gestorben. »Ich habe gleich nach dem College geheiratet. Mein Mann ist nach kaum einem Jahr bei einem Autounfall umgekommen. Wir hatten keine Kinder.«
»Das ist hart.« In Halleys Stimme schwang echte Sympathie mit. »Tut mir leid. Ich kann mir kaum ausmalen, was es bedeuten würde, Joel zu verlieren. Er treibt mich manchmal zwar wirklich auf die Palme, aber er ist mein Fels in der Brandung, er ist immer da, wenn ich ihn brauche.« Nach kurzem Schweigen lächelte sie. »Und was bringt dich zurück nach Prescott? Ich kann mir vorstellen, von hier nach Dallas zu ziehen, aber doch nicht umgekehrt.«
»Es ist mein Zuhause. Ich wollte zurückkommen.«
»Ich will ja nicht neugierig oder unhöflich sein, aber ich würde meinen, daß gerade Prescott der Ort ist, an den es dich am wenigsten zurückzieht. Nach dem, was passiert ist, meine ich.«
Faith blickte kurz zu ihr auf, konnte aber keinerlei Boshaftigkeit in Halleys Gesichtsausdruck erkennen. Nur ein wenig Wachsamkeit, als ob sie sich über Faith noch nicht ganz im klaren sei.
»Ein Zuckerschlecken ist es nicht gerade«, erwiderte sie. Dann entschied sie sich zu derselben Offenheit, wie auch Halley sie an den Tag legte. »Ich weiß nicht, vielleicht hast du ja schon davon gehört? Gray Rouillard würde es nicht gefallen, wenn er herausbekäme, daß ich hier etwas zu essen bekomme. Er hat offensichtlich allen Ladenbesitzern nahegelegt, mich nicht mehr zu bedienen.«
»Ja, davon habe ich gehört«, sagte Halley grinsend. Ein wenig von der Wachsamkeit wich aus ihrem Gesicht. »Aber ich bilde mir meine Meinung über Leute lieber selbst.«
»Ich möchte dir keine Unannehmlichkeiten bereiten.«
»Das tust du nicht. Gray ist nicht nachtragend.« Sie hielt inne. »Vielleicht stimmst du da nicht mit mir überein. Ich gebe zu, ich möchte ihn nicht zum Feind haben. Aber nur, weil du hier einen Geflügelsalat gegessen hast, wird er nicht böse werden.«
»Aber alle anderen in der Stadt scheinen ihn sehr ernst zu nehmen.«
»Er hat einigen Einfluß hier«, stimmte Halley zu.
»Auf dich etwa nicht?«
»Das habe ich nicht gesagt. Aber ich kenne dich aus der Schule. Du warst anders als die anderen. Wenn es jetzt Jodie gewesen wäre, also sie würde nicht mehr hier sitzen und auf ihr Essen warten. Du jedoch bist hier jederzeit willkommen.«
»Vielen Dank. Aber laß es mich wissen, wenn es zu einem Problem werden sollte.«
»Darüber zerbreche ich mir nicht den Kopf.« Halley lächelte, während die Bedienung den Geflügelsalat auf den Tisch stellte. »Wenn er in der Sache wirklich knallhart hätte sein wollen, dann hätte er das auch zum Ausdruck gebracht. Eines muß man Gray zugestehen, auf sein Wort kann man sich verlassen. Er sagt, was er meint. Und er meint, was er sagt.«
Laut dem Namensschildchen auf ihrem Schreibtisch war Andrea Wallace immer noch die Sekretärin von Alex Chelette. Die Frau hinter dem Tisch war gute Fünfzig, und auf ihrem Gesicht waren die Spuren ihrer Jahre deutlich erkennbar. Ihr graues Haar war zu einem kurzen, ordentlichen Pagenschnitt gestylt. Faith betrachtete sie und malte sie sich zwölf Jahre jünger aus. Dennoch konnte sie sich nicht vorstellen, daß Andrea der Typ Frau gewesen war, für den Guy Rouillard sich erwärmt hatte. Sein Typ war auffälliger, nicht wie diese adrette Frau mit dem neugierigen Blick.
»Sie sehen aus wie Ihre Mutter«, sagte Andrea schließlich, wobei sie den Kopf zur Seite legte und Faiths Gesicht betrachtete. »Ein paar Unterschiede, aber Sie könnten fast als Renee durchgehen, besonders natürlich Ihr Teint und Ihre Haarfarbe.«
»Haben Sie sie gekannt?« fragte Faith.
»Nur vom Sehen.« Sie deutete Richtung Sofa. »Nehmen Sie doch Platz. Alex ist noch nicht vom Essen zurück.«
Gerade als sich Faith setzen wollte, betrat ein schlanker, gutaussehender Mann den Raum. Er trug einen Anzug, in Prescott eine Seltenheit, es sei denn, man war Anwalt und hatte den Vormittag im Gericht zugebracht. Er blickte Faith an und war sichtlich erschrocken. Dann lächelte er. »Sie sind sicherlich Faith. Der Himmel weiß, daß Sie niemand anderer sein können. Es sei denn, Renee hätte den Jungbrunnen entdeckt.«
»Das habe ich auch gedacht«, sagte Andrea, wandte sich zu ihm um und blickte ihm in die Augen. Faith schaute unwillkürlich zu Boden. Ihrem bisherigen Eindruck nach konnte sie sich nicht vorstellen, daß Andrea jemals etwas mit Guy gehabt hatte, dazu war sie viel zu offensichtlich in ihren Chef verliebt. Ob Alex Chelette das überhaupt bewußt war? Schnell kam sie zu der Schlußfolgerung, daß dem nicht so war. Er schien Andreas Blick überhaupt nicht zu bemerken.
»Kommen Sie herein«, sagte er, ließ Faith in sein Büro eintreten und schloß hinter ihnen die Tür. »Wir müssen Ihnen als sehr unhöflich erscheinen, daß wir uns in Ihrer Anwesenheit derart über Sie äußern. Dafür muß ich mich entschuldigen, aber die Ähnlichkeit ist wirklich frappierend. Allerdings sind bei näherem Hinsehen die Unterschiede auch nicht zu übersehen.«
»Diese Reaktion zeigen alle, die mich zum ersten Mal sehen«, sagte sie und lächelte. Es fiel ihr überhaupt nicht schwer, Alex Chelette anzulächeln. Er gehörte zu jenen Männern, die das Alter interessanter machte: immer schon schlank, würde er mit den Jahren sogar noch schlanker werden. Sein dunkles Haar war an den Schläfen ergraut, um seine grauen Augen herum hatte er ein paar Fältchen. Dennoch hätte er leicht für Mitte Vierzig durchgehen können und nicht für seine tatsächlichen Mitte Fünfzig. Seine Farbe war hellgrün und so belebend wie frisch gemähtes Gras.
»Bitte setzen Sie sich«, sagte er und ließ sich ebenfalls auf seinem Stuhl nieder. »Was kann ich für Sie tun?«
Faith setzte sich auf das Ledersofa. »Ich bin aus ganz privaten Gründen hier und hätte eigentlich dafür Ihre Geschäftszeit gar nicht in Anspruch nehmen dürfen.«
Er schüttelte lachend den Kopf. »Aber nicht doch. Und jetzt erzählen Sie mir, was Ihnen zu schaffen macht? Ist es Gray? Ich habe ihn zu überzeugen versucht, daß er Sie in Ruhe lassen soll. Aber er ist seiner Mutter und seiner Schwester gegenüber sehr beschützerisch. Er will nicht, daß sie sich aufregen.«
»Ich kann Grays Lage sehr gut nachvollziehen«, erwiderte Faith trocken. »Aber deswegen bin ich nicht gekommen.«
»Ach?«
»Ich wollte Ihnen ein paar Fragen über Guy Rouillard stellen. Sie waren doch sein bester Freund, nicht wahr?«
Er lächelte sie kaum merklich an. »Das dachte ich jedenfalls. Wir sind zusammen aufgewachsen.«
Sollte sie ihm erzählen, daß Guy doch nicht mit ihrer Mutter durchgebrannt war? Sie spielte mit dem Gedanken, verwarf ihn aber sogleich. So nett er auch schien, sie durfte nicht vergessen, daß er ein alter Freund der Familie Rouillard war. Sie mußte davon ausgehen, daß alles, was sie ihm erzählte, direkt an Gray weitergeleitet wurde.
»Er hat meine Neugier geweckt«, sagte sie schließlich. »Diese Nacht damals hat meine ganze Familie zugrunde gerichtet, genauso wie die von Gray. Was für ein Mensch war er? Ich weiß, daß er meiner Mutter gegenüber ebensowenig treu war wie gegenüber seiner Frau. Warum also sollte er auf einmal alles im Stich lassen, seine Familie und sein Geschäft, nur um mit ihr zusammenzusein?«
»Erwarten Sie nicht, daß ich Ihnen das beantworten kann«, erwiderte er zerknirscht. »Um es so höflich wie möglich auszudrücken, Renee war eine faszinierende Frau, jedenfalls für Männer. Körperlich war sie ... nun, Guy war ihrer Sinnlichkeit gegenüber jedenfalls sehr aufgeschlossen.«
»Aber er unterhielt doch bereits eine Affäre mit ihr. Es gab also keinen Grund für ihn wegzugehen.«
Alex zuckte mit den Schultern. »Das habe ich selbst auch nie begriffen.«
»Warum hat er sich nicht ganz einfach scheiden lassen?«
»Auch darauf habe ich keinerlei Antwort. Vielleicht wegen seiner Religion. Guy ging zwar nicht häufig in die Kirche, aber er war doch religiöser, als man es vermuten würde. Vielleicht glaubte er auch, daß es für Noelle einfacher sein würde, wenn er sich nicht von ihr scheiden ließ. So konnte er einfach alles Gray übertragen und verschwinden. Ich weiß es wirklich nicht.«
»Alles Gray übertragen?« wiederholte Faith. »Wie meinen Sie das?«
»Tut mir leid«, sagte er leise. »Ich kann die geschäftlichen Details meiner Klienten nicht offenlegen.«
»Nein, natürlich nicht.« Faith machte schnell einen Rückzieher. »Können Sie sich noch an irgend etwas in jenem Sommer erinnern? Mit wem traf sich Guy noch?«
Er blickte sie erstaunt an. »Warum sollten Sie das wissen wollen?«
»Wie gesagt, der Mann interessiert mich. Seinetwegen habe ich meine Mutter nie mehr wiedergesehen. War er liebenswert? Hatte er Ehrgefühl, oder war er ganz einfach ein Streuner?«
Einen Augenblick lang starrte er sie an, dann wurde sein Blick von Schmerz überschattet. »Guy war der liebenswerteste Mann der Welt«, sagte er schließlich. »Ich habe ihn geliebt wie einen Bruder. Er war immer gutgelaunt, immer zu jedem Spaß bereit, und wenn ich ihn wirklich brauchte, war er sofort zur Stelle. Seine Ehe mit Noelle war enttäuschend für ihn. Trotzdem hat mich sein Verschwinden überrascht, denn er hatte zu seinen Kindern Gray und Monica eine enge Beziehung. Er war ein furchtbarer Ehemann, aber ein guter Vater.« Er blickte auf seine Hände herab. »Es ist jetzt zwölf Jahre her«, sagte er leise. »Und ich vermisse ihn immer noch.«
»Hat er jemals angerufen?« fragte sie. »Oder sonstwie mit seiner Familie Verbindung aufgenommen?«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht, daß ich wüßte.«
»Wen hat er in jenem Sommer außer Yolanda Foster noch getroffen?«
Wieder verblüffte ihn ihre Frage. Seine Augenbrauen schossen in die Höhe, dann wehrte er ab: »Das ist alles nicht von Belang. Zu Gray sage ich auch immer wieder, daß das jetzt Vergangenheit ist, daß man die Vergangenheit ruhen lassen sollte. Jener Sommer hat jede Menge Unheil gebracht. Es immer wieder aufzuwärmen tut niemandem einen Gefallen.«
»Ich kann es aber nicht vergessen, solange es auch sonst hier in der Stadt niemand vergessen hat. Ganz gleich, wie erfolgreich oder angesehen ich auch sein mag, in dieser Stadt halten mich die meisten noch immer für nichts als Dreck.« Bei dem letzten Wort zitterte ihre Stimme ein wenig. Sie hatte ihre Fassung vollkommen bewahren wollen. Dieser kleine Lapsus war ihr peinlich, gleichzeitig beunruhigte er sie. Manchmal jedoch ließ sich der Schmerz einfach nicht länger verstecken.
Alex mußte es auch aufgefallen sein, denn sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Er stand plötzlich von seinem Stuhl auf, setzte sich neben sie und nahm ihre Hand in seine. »Ich weiß, daß es schwer für Sie war«, sagte er leise. »Die Leute werden ihre Meinung ändern, wenn sie Sie erst einmal ein wenig kennengelernt haben. Und Gray wird schließlich auch nachgeben. Wie gesagt, seine Reaktion basiert auf seinem Schutzverhalten seiner Familie gegenüber. Aber im Grunde ist er fair.«
»Und rücksichtslos«, fügte Faith hinzu.
Ein bedauerndes Lächeln spielte auf Alex' Gesicht. »Das auch, ja. Aber er ist nicht gemein, darauf können Sie mein Wort haben. Wenn es mir irgendwie möglich ist, seine Meinung zu beeinflussen, dann werde ich das tun. Das verspreche ich Ihnen.«
»Danke«, erwiderte Faith. Deswegen war sie zwar nicht hierher gekommen, aber der Anwalt war offenbar zu gewissenhaft, als daß er persönliche Dinge über seine Klienten und Freunde verraten hätte. Der Besuch war in Faiths Augen trotzdem kein völliger Reinfall, denn nun konnte sie Andrea Wallice von ihrer Liste streichen.
Sie fuhr nach Hause und dachte über die Informationsfetzen nach, die sie heute gesammelt hatte. Wenn Guy ermordet worden war, dann waren Lowell oder Yolanda Foster die wahrscheinlichsten Verdächtigen. Sie grübelte darüber nach, wie sie ein Treffen mit einer der beiden herbeiführen konnte. Außerdem machte sie sich Pleasants wegen Sorgen. Wie mochte es ihm wohl jetzt gehen?
»Ich habe heute Faith getroffen«, bemerkte Alex am Abend, als er mit Gray zusammen die Akten durchging. Er hob sein Brandyglas und betrachtete den jungen Mann über den Rand hinweg. »Im ersten Moment war die Ähnlichkeit schon fast unheimlich, aber bei näherem Hinsehen kann man sie nicht mit Renee verwechseln. Es ist schon seltsam, daß Renee zwar schöner, aber Faith anziehender ist.«
Gray sah auf. Eine merkwürdige Wachsamkeit lag in seinen dunklen Augen, während er Alex' Ausdruck einzuschätzen versuchte. »Ja, mir ist ihre Attraktivität auch schon aufgefallen, falls du das meinen solltest. Wo bist du ihr begegnet?« Er hob sein Glas, füllte es mit seinem Lieblingsscotch und genoß den rauchigen Geschmack auf seiner Zunge.
»In meinem Büro. Sie kam, um etwas über Guy zu erfahren.«
Gray hätte sich fast verschluckt. Er setzte das Glas mit einer solchen Wucht ab, daß der Whiskey gefährlich darin herumwirbelte. »Was wollte sie? Was in aller Welt wollte sie denn über Papa wissen?«
Der Gedanke, daß Faith etwas über seinen Vater in Erfahrung zu bringen versuchte, ließ eine bittere Wut in ihm aufsteigen. Es war wie ein Reflex: Einen Moment lang war sie nicht Faith, der Mensch, sondern eine Devlin mit allem, was diesem Namen anhaftete. Er selbst begehrte sie so heftig, daß es ihn sowohl beunruhigte als auch ekelte. Und obwohl er sich bewußt war, daß er dieses Verlangen nach ihr bei der erstbesten Gelegenheit stillen würde, so wollte er nicht, daß sie und seine Familie miteinander in Berührung kamen. Er wollte weder Monica noch Noelle mit ihr konfrontieren, und auf gar keinen Fall wollte er, daß sie Fragen nach seinem Vater stellte. Guy war verschwunden. Seine Abwesenheit, sein Betrug war wie eine Wunde, die nur oberflächlich verheilt war und bei der kleinsten Verletzung zu bluten begann.
»Sie wollte wissen, was für ein Mensch er war, ob er jemals wieder Kontakt aufgenommen hat, und ob er sich in jenem Sommer auch noch mit anderen Frauen traf.«
Wutschnaubend wollte sich Gray aus seinem Stuhl erheben und auf der Stelle zu ihrem Haus fahren, um sie zur Rede zu stellen. Alex aber hielt ihn zurück, indem er seine Hand auf Grays Arm legte. »Sie hat ein Recht darauf, es zu wissen«, sagte er freundlich. »Zumindest darf sie neugierig sein.«
»Ich soll verdammt sein, wenn sie darauf ein Recht hat!« knurrte Gray.
»Auch sie hat seitdem ihre Mutter nicht wiedergesehen.«
Gray erstarrte, dann sank er auf seinen Stuhl zurück. Alex hatte recht, verflucht. So schmerzlich es war, so mußte er doch die Wahrheit gelten lassen. Er war wenigstens schon erwachsen, wenn auch in geschäftlichen Dingen noch vollkommen unerfahren gewesen, als Guy sie verlassen hatte. Aber Faith war erst vierzehn Jahre alt gewesen, hilflos und verletzlich wie ein Kind. Er wußte gar nichts über ihr Leben zwischen damals und heute, außer daß sie jetzt Witwe war und ein erfolgreiches Reiseunternehmen besaß. Aber er hätte seinen letzten Pfennig darauf gewettet, daß ihr Leben kein Zuckerschlecken gewesen war. Mit Amos Devlin und diesen zwei Nichtsnutzen als Brüder, dazu die Hure von einer Schwester, das konnte nicht einfach gewesen sein. Davor war es sicherlich auch kein feines Leben gewesen, aber immerhin hatte damals ihre Mutter noch bei ihnen gewohnt.
»Laß sie doch in Ruhe, Gray«, sagte Alex leise. »Sie hat eine schönere Begrüßung verdient als die, die ihr manche hier jetzt bereiten. Zum Teil ist das deine Schuld.«
Gray hob das Glas, schwenkte den Whiskey und starrte in das bernsteinfarbene Getränk. »Ich kann nicht«, brummte er mißmutig. Er stand auf, ging mit seinem Glas zum Fenster und starrte auf sein Spiegelbild, dann in die dahinterliegende Dunkelheit. Er gönnte sich noch einen stärkenden Schluck. »Sie muß hier fort, ehe ich etwas tue, das Monica und Mutter wirklich verletzen würde.«
»Und was wäre das?« fragte Alex verblüfft.
»Nun, sagen wir einfach, was Faith betrifft, so stehe ich zwischen einer Wand in meinem Rücken und etwas sehr Hartem. Die Wand ist meine Familie, und das Harte ...« Er blickte sich mit einer fast ärgerlichen Belustigung in den Augen um. »Das Harte sitzt in meiner Hose.«
Alex starrte ihn entsetzt an. »Mein Gott.«
»Es ist wohl erblich.« Das war die einzige Erklärung, dachte er verbittert. Er hatte den Schwanz seines Vaters geerbt. Wenn man eine Devlin davor stellte, so wurde er hart. Nicht jede Devlin, das stimmte, denn zwei hatten ihn ganz kalt gelassen. Aber Faith ... Nichts an ihm blieb kalt, wenn sie auch nur seinen entferntesten Umkreis betrat.
»Das kannst du deiner Mutter nicht antun«, flüsterte Alex. »Die Erniedrigung würde sie umbringen.«
»Mein Gott, das weiß ich doch! Deswegen möchte ich, daß Faith geht, ehe ich etwas Dummes tue.« Er wandte sich Alex zu, immer noch glitzerte der Ärger in seinen Augen. »Die Anziehung besteht nicht nur auf meiner Seite. Es wäre verdammt viel leichter, wenn es so wäre. Gestern abend war ich bei ihr zu Hause, um ihr einen Vorschlag zu machen. Wenn sie die Gegend nicht verlassen wollte, dann würde ich ihr ein Haus in einer der umliegenden Städte kaufen, solange es außerhalb dieser Gemeinde liegt. Auf diese Weise könnten wir uns treffen, ohne jemanden zu verletzen. Ein alter Mann war bei ihr, mit dem sie zu Abend gegessen hatte. Ich war so eifersüchtig, daß ich ihr vorgeworfen habe, sie ließe sich von ihm aushalten.«
Er schüttelte den Kopf und lachte leise in sich hinein.
»Kannst du das glauben? Der Alte war so dünn wie ein Zahnstocher und hatte einen total altmodischen Anzug an. Und ich konnte nichts anderes denken, als daß er sie ins Bett bekommen wollte.«
»Welcher alte Mann?« fragte Alex interessiert. »Kenne ich ihn?«
»Er war aus New Orleans. Sein Nachname ist Pleasant. Ich war so wütend, daß ich mich nicht erinnern kann, ob sie mir auch seinen Vornamen genannt hat. Er gab sich als einer ihrer Geschäftsfreunde aus.«
»War er das denn?«
Gray zuckte mit den Schultern. »Vermutlich. Faith ist Inhaberin eines Reiseunternehmens. In New Orleans hat sie eine Filiale.«
»Sie ist die Inhaberin?«
»Sie hat ganz schön was aus sich gemacht, nicht wahr?« Da war es wieder, dieses Gefühl des Stolzes. »Sie hat in Dallas angefangen. Ich weiß nicht, wie viele Filialen sie jetzt besitzt, aber ich habe jemanden beauftragt, Informationen über sie zu sammeln. Morgen werde ich wohl einen entsprechenden Bericht vorliegen haben.«
»Wirst du denn, falls sie nicht wegziehen möchte, ihr Geschäft zu ruinieren versuchen?« fragte Alex, allerdings weniger scharf, als Gray es vermutet hätte.
»Nein. Erstens bin ich so ein Mistkerl nun doch nicht. Und zweitens, wenn ich es täte, dann hätte ich wohl nicht mehr die geringste Chance, bei ihr zu landen.« Sein Mund zuckte. »Entscheide selbst, welches der gewichtigere Grund ist.«
Alex aber lächelte nicht zurück. »Das ist eine ganz schlimme Situation. Wenn du wirklich auf ein Verhältnis mit ihr aus bist ...«
»Das bin ich«, erwiderte Gray und kippte den Rest seines Whiskeys runter.
»Dann kann sie nicht hier leben. Das würde Noelle vollkommen zerstören.«
»Wegen Monica mache ich mir da mehr Sorgen als um meine Mutter.«
Alex blinzelte, als ob er an Monica noch gar nicht gedacht hätte. Das hatte er vermutlich auch nicht, da seine ganze Aufmerksamkeit Noelle galt. Natürlich wußte er von Monicas Selbstmordversuch, das hatte man nicht verheimlichen können, jedenfalls nicht nach all dem Aufstand in Dr. Bogardes Praxis. Und Monica versuchte ohnehin nicht, ihre Narben zu verstecken. Sie war viel zu stolz, um den Weg des Feiglings zu beschreiten und lange Ärmel und breite Armbänder zu tragen.
»Monica ist viel stabiler jetzt, als sie es damals gewesen ist«, sagte Alex schließlich. »Aber für Noelle scheint es nichts zu geben, auf das sie zurückgreifen könnte. Anfangs dachte ich – und heute denke ich es immer noch –, daß sie sich der Situation stellen und ihr Leben weiterleben sollte. Aber wenn sie herausfindet, daß du eine Affäre mit Faith ... nein. Sie könnte es nicht ertragen. Sie würde sich vielleicht auch das Leben nehmen wollen.«
Gray schüttelte den Kopf. Es erstaunte ihn, daß Alex Noelle über all diese Jahre hinweg gekannt und immer noch nicht begriffen hatte, daß sie viel zu egozentrisch war, um sich selbst zu verletzen. Die Kurzsichtigkeit der Liebe ließ ihn nur ihre kühle, perfekte, unerreichbare Schönheit wahrnehmen. Es lag an dieser romantischen Ader, die er besaß. Sehr ungewöhnlich für einen Juristen.«
»Sie muß gehen«, sagte Alex bedauernd.